"Schlomo und die Windhunde oder was ist los in Spanien und sons wo"

Leseprobe

XVI

(München)

Ein Oktoberfest im September

oder

was ist weiß und hat zwei Enden

 

 

Salzburg raus, geradeaus und gleich um die Ecke, da ist München sozusagen. Distanzen bekommen mit einem Mal eine ganz andere Dimension, vorausgesetzt es handelt sich um eine Weltumrundung.  Und diese hat ihren Lauf genommen und ist das einzige Ziel vieler hunderter Windhunde. Sie wollen damit ein Zeichen setzen. Sie wollen friedlich auf sich aufmerksam machen. Und es scheint, als ob ihnen dies allmählich gelingt. Viele Menschen bemerken sie bereits. Manche davon sind furchtbar verärgert und verstehen die Welt nicht mehr. Andere wiederum sind begeistert und verstehen die Welt ebenso wenig. Eine dritte Sorte Menschen hält den Atem an und glaubt zu ahnen, dass dieser Lauf der Windhunde etwas zu bedeuten hat. Es gibt natürlich auch Menschen, die noch keine Ahnung davon haben, was sich auf den Straßen Europas abspielt. Die Ersten, die Verärgerten, die schmieden bereits Pläne wie sie den Lauf der ausgebrochenen Hunde stoppen, gar verhindern können. Diese Menschen sind nicht böse, sie haben einfach nur Angst. Sie glauben ihre heile Welt- die sie nicht verstehen- sei aus den Fugen geraten. Ordnung muss her. Hund an die Leine, gültige Fahrkarte im Bus, auf der rechten Seite der Rolltreppe stehen bleiben. Diese Menschen haben natürlich Recht. Aber nicht nur sie.  Auch die Begeisterten haben Recht, wenn sie meinen: „hauptsache es regt sich etwas. Das Leben, dass wir nicht verstehen ist eben nicht berechenbar!“ Auch die Dritte Sorte Menschen hat Recht, wenn sie meint: „hier geschieht etwas Außergewöhnliches! Etwas Friedliches und Bedeutendes! Lasst uns die Hunde begleiten und sehen wohin ihre Reise führt!“ Die vierte Sorte, die hat wiederum gar kein Recht. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ Erinnern?! Sie können gar kein Recht haben, denn sie wissen nicht worüber.  Es gibt auch eine fünfte Sorte Menschen. Die nehmen sich einfach das Recht, Recht zu haben. Das sind all diejenigen, die es nicht verdienen - Menschen genannt zu werden. Diese sind überall dort, wo die Erdkugel Wunden und Stiche bekommt. Und wegen dieses gestohlenen Rechtes auf Recht, rennen die Windhunde um ihr Recht.

Der Lauf der Windhunde wird allmählich zum Gesprächsthema Nummer Eins und unsere ersten drei Sorten Menschen debattieren bereits laut und öffentlich, was zu tun sei. Bekanntlich debattieren Menschen viele Weilen lang bis sie eine Lösung finden, wenn sie eine finden und diese Weilen kommen den Windhunden nur zu gute, denn sie laufen einfach weiter. Also links und um die Ecke biegen und schon sind die Windis in München.

Was jetzt geschehen wird, ist eine Ironie des Schicksals. Die Windhunde werden auf unsere vierte Sorte Menschen treffen. Das sind die Menschen, die noch keinen Wind abbekommen haben, dass Windhunde die Winde um die Erde jagen. Diese Menschen können nichts dafür, denn sie haben viel, aber viel Wichtigeres zu tun. Sie müssen feiern! Unbedingt! Sie feiern ein Oktoberfest im September, aber das macht nichts. Sie verstehen die Welt auch nicht, aber das macht wirklich nichts.

Wer feiert, denkt nichts Böses. Das Oktoberfest in München hat soeben begonnen und viele Menschen bemühen sich ernsthaft und aufrichtig zu feiern. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Das Feiern ist eine ernste und anstrengende Angelegenheit. Doch Übung macht bekanntlich den Meister.

„Ich habe von der Festung gesehen, da drüben sind viele Menschen versammelt um zu fressen! Sie alle kriegen große Portionen Fressi!“

„Echt wahr, Aimee? Mein Magen ist nämlich ziemlich leer geräumt, ich muss ihn wieder füllen! Hörst du, wie er knurrt!“

„Pinto! Ich knurr dich gleich an, wenn du nicht aufhörst nur an deinen Magen zu denken!“

„Dann knurre ich zurück, Palomo!“

„Und ich knurre zurück – zurück, Pinto!“

„Riecht ihr das?!“

„Was Poderosso?!“

„Da drüben, Bismark, links bei den Menschen riecht es nach vollen Bäuchen!“

„Lasst uns kurz die vollen Bäuche begutachten, Leute! Leute! Nur kurz begutachten!“

„Wir sind Hunde und keine Leute, Pinto!“

„Na und, Sasia?! Hunde haben auch Bäuche, auch wenn sie oftmals leer sind!“

„Mann, Romeo, was haben wir in Spanien gehungert!“

„Was ist der Unterschied zwischen Menschen und Leuten?!“

„Menschen sind Leute mit vollen Bäuchen und die Leute sind Menschen mit ebenfalls vollen Bäuchen, Blanca!“

„Aber warum gibt es Menschen und dann wiederum sind die Menschen Leute, Jaguar!?“

„Weil… Menschen eben Leute sind und die Leute eben Menschen!“

„Aber die Menschen sind auch Menschen! So wie die Leute – Leute sind!“

„Eben, Capi! Was ist dann der Unterschied?!“

„Der Unterschied, Blanca, ist der! Du kannst „ein Mensch“ sagen, aber du kannst nicht „ein Leut“ sagen! Das ist der Unterschied! Zufrieden?!“

„Gar nicht übel, Romeo!“

„Danke, Emir!“

„Nun, Windkinder! Was ist ein Mensch! Er ist die Krone der Schöpfung! Doch der Mensch wird zum Menschen wenn er das Abbild Gottes in sich verwirklicht! Und was sind Leute! Leute… das sind alles Menschen, die miteinander auf der Suche nach dem Abbild Gottes sind! Die Leute sind das kollektive Miteinander einzelner Menschen. Denn ohne Kollektiv, gibt es kein Individuum… und andersrum! “

„Ich habe nichts verstanden!“

„Ich auch nicht, Schlomo!“

„Es ist so, Pisafuerte! Ein Bein zum Beispiel ist etwas Wundervolles! Etwas Vollkommenes! Aber mit nur einem Bein kommst du nicht weiter! Ein Bein kann alleine keinen Weg beschreiten! Du zum Beispiel brauchst mindestens drei Beine um vorwärts zu kommen! Aber hättest du vier Beine, wärst du schneller und würdest vielleicht in der siebten Reihe laufen. Und erst nachdem du dein Beinchen verloren hast, weiß du jetzt wie wichtig und großartig das einzelne Bein an sich ist!“

„…meines hatte drei braune Punkte und eine schwarze Zehe! Es war mein schnellstes!“

„So ist es auch bei den Menschen! Einer allein kann nichts bewirken! Die Leute müssen Zusammenkommen, um als einzelne Menschen voranzukommen!“

„Wetten ich schaffe es auch auf Zweien, Emir!?“

„Das schaue ich mir gerne an!“

„Das glaube ich nicht, Schlomo! Das schaut sich niemand gerne an!“ 

„Hast du schon mal einen Windhund mit nur zwei Beinen gesehen, Emir?!“

„Und nicht nur das, Schlomo!“

„Auch mit nur einem Bein!“

„…auch ohne alle vier Beine, Pisafuerte!“

„Haben Menschen dir das Beinchen gestohlen, Pisa?!“

„Es war mein Galgoero Mensch. Er hat mich an ein Auto angebunden und geschleift. Dann ist er rückwärts gefahren, ich bin zur Seite gesprungen und das Auto hat mein Hinterbein zerquetscht! Dann hat er mich liegen lassen und ist weiter gefahren! “

„…aber warum denn…?!“

„Ich habe ihn bei der Jagt blamiert! Ich habe den Hasen entwischen lassen…“

„Aber ein Mensch ist eben ein Abbild Gottes! Ein Mensch kann so etwas nicht tun, Pisafuerte!“

„Dann war mein Galgoero eben kein Mensch, sondern ein „Leut“, Schlomo! Ein Menschenwesen aus der Gruppe der Leute, das noch kein Abbild Gottes sein will!“

„Also, dann gibt es ihn doch, den Leut!“

„Es gibt ihn, Blanca, du hattest Recht, Liebes!“   Emir lächelt zart doch seine Augen verraten viel Trauer. Aus der ersten Reihe kommt der ruf Palomos.

„Wir erreichen die Menschenleute! Windhunde, benehmt euch ordentlich!“ 

„Die Menschenleute weichen zur Seite und schreien! Sie freuen sich auf uns!“

„Ist das Freude, Pinto?“

„Doch, doch, Jaguar! Ihre Freude hat kein Ende, sieh nur wie sie kreischen!“

„Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei, Blanca! Und sie ist weiß und lecker wie du!“

Romeo blickt Blanca und einen Teller mit Weißwurst verliebt an. „Ran an die Weißwurst!“ 

Pinto und die Windhunde erstürmen eine Weile später die Festzelte und ergreifen die weißen Würste.  Das Oktoberfest im September verwandelt sich eine zweite Weile später in eine Weißwurstschlacht. Viele angeheiterte Menschen brüllen eine dritte Weile später um ihr Leben und springen auf die Tische. Eine vierte Weile später kippen hunderte Biergläser auf den Boden.

„Lecker Wasser!“ Pinto schleckt während der fünften Weile eine ordentliche Portion Bier.

„Das ist kaputtes Wasser, Pinto! Trinkt es nicht, Windhunde!“

„Auch kaputtes Wasser ist Wasser, Emir!“

„Trinkt es nicht, Windhunde! Dieses gelbe Wasser ist nicht belebend!“

Eine sechste Weile später schlecken hunderte Windhunde Biertropfen um Biertropfen, jagen Weißwürste durch die Zelte und hüpfen kreischenden Trachtendamen in den Schoß. Einzelne Musikanten spielen noch immer auf ihren Instrumenten und begleiten das Chaos musikalisch während der siebten Weile. Was für eine Idylle. Mensch und Hund feiern um die Wurst, raufen um die Wurst, trinken um die Wurst, jaulen, tanzen um die Wurst. Ein Fest ohne Ende. Denn nur sie hat Zwei. Die Weißwurst am Oktoberfest im September, mitten in München.

Eine achte Weile später fallen Hund und Mensch bewusstlos zu Boden, strunz- betrunken und erschöpft. Eine neunte Weile später ertönt eine Schnarchsymphonie. Und sieh da, Menschen-Leute und Hunde der Winde, sie alle schnarchen ähnlich laut der Tonleiter rauf und runter.

Eine zehnte Weile später steht ein Emir mitten im Geschehen, sieht sich um und schüttelt seinen nüchternen Kopf. Plötzlich ergreift eine wurstige Hand sein Hinterbein. Es ist ein Menschen – Leut mit Hut. Das heißt, es war ein Menschen – Leut mit Hut. Der Hut liegt jetzt am Boden und der Mensch macht es ihm nach. Emir und der Mensch sehen einander an und ohne zu ahnen, dass Emir eben Emir heißt, spricht der Hut, pardon der Mensch mit erhobenem Finger den bedeutenden Satz aus:

„Kennst den: sagt der Scheich zum Emir, kumm zahl ma und dann gehn mir! Sagt der Emir drauf zum Scheich, du woaßt wos: zahl ma net und gemma gleich…“   Der Hut, pardon der Mensch ergreift jetzt eine Weißwurst und beißt hinein.

„Jeder muss seine eigene Erfahrung machen… aber warum machen alle dieselbe unnötige Erfahrung immer gleichzeitig! Ach, Hund! Ach, Mensch…! Steht auf, ihr, Weichköpfe!“

Emirs Stimme unterbricht die Schnarchyade. Die Windhunde öffnen nach einander ihre benebelten Augen und schielen gemeinschaftlich die Welt um sich herum an.

„Steht auf, ihr Fresswürmer! Steht auf und schämt euch!“  Die Windhunde erheben ihre mürben Köpfe und sehen drei oder mehr Emirs gleichzeitig.

„Ich erwarte euch am Fluss! Kühlt dort eure Köpfe, trinkt sauberes Wasser und seid still! Ich hab mit euch zu reden!“ Emir dreht sich weg und läuft fort. Die Windhunde stehen beschämt auf und folgen ihm langsam. Sie torkeln neben-, hintereinander, die Ohren schlapp, die Ruten schief. Sie sehen immer noch fünf Emirs vor sich laufen.

„Du, Palomo, welchen sollen wir nachlaufen?!“

„Ich würde meinen, den Mittleren… er ist irgendwie am… emir-sten, Pinto!“

 

Sie erreichen torkelnd den Fluss und springen hinein. Das eiskalte Wasser lässt sie augenblicklich ernüchtern.  Sie steigen aus dem Wasser und sammeln sich still und mit gesenkten Köpfen um Emir herum.

„Hört mir gut zu, Windhunde! Wir sind alle hier versammelt, weil wir dem Ruf gefolgt sind! Dem Ruf eine große Tat zu vollbringen! Ihr zeigt euch unwürdig! Euch fehlt Disziplin und Selbstbeherrschung! Habt ihr bereits alles vergessen, Windhunde! Wegen einer Weißwurst…?!“  Die Windhunde schweigen beschämt und betroffen. „Hört mir jetzt zu! Wir müssen die verlorene Zeit aufholen!“

Palomo, Pinto, Jaranas, Bismarck und Jaguar formieren augenblicklich die erste Reihe.

„Nein, liebe Freunde! Nicht so! Die erste Reihe läuft ab sofort in der letzten Reihe. Die Zweite Reihe in der Vorletzten, bis zur fünften. Die Fünfte Reihe läuft vorne.“

„Aber sie sind langsamer, Emir! Wir sind die Spitzenläufer! Ich- der Anführer!“

„Du, Palomo, sei still! Kühle deinen Kopf in der letzten Reihe und denk nach! Denk gut nach was die aufgabe eines Anführers ist und verdiene dir die erste Reihe wieder! Ab jetzt laufen wir durch, Windhunde! Bis Paris! Kaschim! Du führst! Der Wind stehe uns bei!“

Jetzt kennen wir noch einen Namen lernen. Kaschim.

Kaschim ist groß, seine Augen gelb-grün, sein Fell wie das eines grau - gelbenTigers.

Kaschim stellt sich an die Spitze. Kaschim nimmt Anlauf, Kaschim rennt los. Palomo und Pinto senken beschämt die Köpfe.

In der letzten Reihe.